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Der sagenhafte Urmensch


(Hinweis: Es empfiehlt sich, den vorigen Aufsatz "Stammt der Mensch vom Affen ab oder der Affe vom Menschen?" zu lesen, um den hierauf folgenden Aufsatz zu verstehen.)


Körpermerkmale des sagenhaften Urmenschen

Es ist uns wahrscheinlich geworden, daß der Mensch in vielen wechselnden Gestalten immerhin so uralt sein kann, daß Sagengut von ihm, wenn auch noch so zusammenhangslos, überliefert sein könnte aus Zeiten, die wir nach der landläufigen Lehre zwar als erd- und lebensgeschichtlich, nicht aber als menschheitsgeschichtlich anzusehen hätten.  Von der Art und dem Weg der "Überlieferung" sei hier noch abgesehen.  Ist nach unserer Lehre der Mensch als Mensch so alt, wie wir es zu begründen versuchten und es jetzt annehmen wollen, und sind Mythen und Sagen vielfach oder vielleicht größtenteils vorweltliches, wenn auch längst nicht mehr ursprüngliches und vielfach entstelltes Wissensgut, dann dürfen wir auch zu dem Versuch fortschreiten, den die vorausgehenden Abschnitte (s. obigen. Hinweis!) einleiten sollten: aus den Sagen und Mythen nun einmal ein Weltbild aufzubauen, wie es der vorweltliche Mensch um sich und in sich gehabt haben könnte, seine Umwelt und seine eigene Gestalt und Seele zu ermitteln, indem wir uns in die Mythen und Sagen und Kosmogonien einfühlen, ihren Kern zu gewinnen streben und sie naiv als naturhistorische Erzählungen nehmen.  So bekommen sie umgekehrt dokumentarischen Wert, indem wir ihre Inhalte nach jenen Urzeiten hin ausbreiten.


Daß man den älteren Menschen fossil noch nicht gefunden hat, liegt vermutlich daran, daß er in Gebieten lebte, die heute größtenteils verschwunden sind, wie etwa der große, von Südafrika bis Madagaskar über Indien und Australien bis in die polynesische Inselwelt hinein sich erstreckende Gondwanakontinent oder -archipel (Fig .1); oder daß andere Gebietsteile, die etwa noch den Schauplatz seines Daseins bilden konnten, geologisch so gut wie nicht erforscht sind. 


Fig.1 (Bildquelle/-text: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit" v. Edgar Dacqué, 8. Aufl. 1938, R. Oldenbourg)
Schematische Skizze der Lage des Gondwanalandes zur Permzeit.  Im Borden das asiatische Angoraland.  Die heutigen Landgrenzen existieren noch nicht.  (Original.)


In dieser Hinsicht ist von der dereinstigen gründlichen Untersuchung gewisser afrikanisch-indisch-australischer oder polynesischer Schichtsysteme des mesozoischen und spätpaläozoischen Erdzeitalters besonders viel zu erwarten.  Wer also unseren Standpunkt vom hohen Alter des Menschenstammes teilt, wird es nicht verwunderlich finden, wenn eines Tages in solchen südlichen, dem alten Gondwanaland angehörenden Landformationen Abdrücke von Fußspuren, Skelettreste, Gegenstände, Gräber oder Baureste eines vorweltlichen Menschenwesens gefunden werden.  Daß aber Menschenskelette und auch Gegenstände, selbst dort, wo der Mensch einmal zahlreich und in hohem Kulturzustand gelebt hat, äußerst selten erscheinen, zeigt nicht nur die allgemeine Schwierigkeit, selbst in gut erhaltenen, vom Spätmenschen bewohnten Höhlen solcher Reste habhaft zu werden, sondern auch die Tatsache, aus dem hellsten Licht der Nahgeschichte, also etwa den Franken, ja sogar den Menschen der verflossenen Jahrhunderte kann mehr nennenswerte Reste im Boden finden, verglichen mit ihrer Zahl und Kulturhöhe.  Denn damit etwas fossil wird, sind so außerordentlich günstige Umstände nötig, daß man sie im allgemeinen nur im Flachmeer bei rascher Sedimentation erwarten darf und auch nur in flachmeerverlassenen gehobenen Böden aus der Vorwelt in ausgiebigerem Maße hat.  Wenn auf dem Land Sedimentationen mit reicherer Fossileinbettung vorkommen, dann gehen solche Lage in ihrer Entstehung fast stets auf katastrophale Ereignisse zurück, etwa auf Vulkanausbrüche, bei denen ungeheure Staub- und Aschenmassen herunterkommen und in kürzester Zeit alles bedecken, oder indem dabei entstehende Schlammregen und Schlammströme rasch alles ersäufen und eindecken; oder auf rasche Flußverlegungen mit großen Sand- und Schlammtransporten; oder auf ein rasches Versinken von Tieren in Sümpfen.  Beispiele für das Erste ist aus geschichtlicher Zeit die Verschüttung von Pompeji, wo wir tatsächlich eine Menschenansiedelung wie fossil finden und die Körperabdrücke der Menschen dazu.  In den nordamerikanischen Bridger beds haben wir die Überreste einer jungtertiärzeitlichen Sumpf- und Seenlandschaft mit reichem Tier- und Pflanzenleben, welche von vulkanischen Tuffmassen überdeckt wurden, wahrscheinlich von erstickenden Gasen und Dämpfen begleitet, welche die dort lebende Welt mit einem Schlage töteten und alsbald unter Bedeckung fossil werden ließen; und das nicht nur einmal, sondern mehrere Male.  In derartigen Schichtsystemen könnten wohl einmal tertiärzeitliche Menschenspuren, wenn auch nur in Form von Gebrauchswerkzeugen entdeckt werden.  Die Pithecanthropusschichten auf Java, in denen der seinerzeit vielberufene Rest des Affenmenschen gefunden wurde, sind solche, später von Flüssen wieder umgelagerte diluvialzeitliche vulkanische Aschen.  Auch aus sehr alter erdgeschichtlicher Zeit gibt es, insbesondere im Süden, wie schon erwähnt, solche und ähnliche Ablagerungen, und es ist deshalb nicht ausgeschlossen, daß wir gerade in terrestren Schichtsystemen vorweltlichen Alters einmal einen glücklichen Fund ältester Menschenformen oder ihrer Kulturreste machen werden, der dann wahrscheinlich auf eine katastrophale Einlagerung zurückgehen wird.  Unterdessen müssen wir uns mit anderen Hinweisen begnügen und aus den Sagen das entnehmen, was wir von Körpermerkmalen urältester Menschenrassen überliefert bekommen und es anatomisch wie entwicklungsgeschichtlich prüfen und tunlichst klarstellen.


Schon im vorigen Abschnitt (s. obigen Hinweis!) wurde auf die von Klaatsch behandelte Tatsache hingewiesen, daß jene alten Reptil- oder, was wahrscheinlicher ist, Amphibienfährten aus dem mitteldeutschen Sandstein der Perm-Triaszeit sehr an embryonal gestaltete menschliche Hände erinnern.  Diese Handform steht in Zusammenhang mit dem bis zu einem gewissen Grade aufrechten Gang solcher Tiere und den opponierbaren Daumen.  Das alles ist in mesozoischer Zeit typisch entwickelt als Zeitcharakter, wie früher schon gezeigt wurde.  Von Menschen mit einem von den Späteren abweichenden Charakter der Hand ist nun in den Sagen gelegentlich die Rede.  So heißt es in einer Überlieferung der Juden: die Hände aller Menschenkinder vor Noah "waren noch ungestaltig und wie geschlossen, und die Finger waren nicht getrennt voneinander.  Aber Noah ward geboren, und siehe, an seinen Händen waren die Finger einzeln und jeder für sich" (1).  Hierzu liefert das babylonische Gilgameschepos eine auffallende Parallele (2).  Da fährt Gilgamesch, der Gottmensch, ins Totenreich zu seinem Ahn Utnapischtim, bei dem er sich Rats über Leben und Tod erholen will.  Und als er mit dem Schiffe über das Meer kommt, steht Utnapischtim drüben am Ufer und wundert sich über den Ankömmling:

Ut-napistim - nach der Ferne hin schaut [sein Antlitz],
Er redet zu sich und [sagt] das Wort ....
"Warum .... fährt einer [im Schiffe], der nicht zu mir gehört(?)?
"Der da kommt, ist doch gar kein Mensch,
"Die Rechte eines Ma[nnes(?) hat er doch nicht].
"Ich blicke hin, aber nicht [verstehe ich es]."

Hier wundert sich also der Ahn über die Rechte - das ist doch ganz offenkundig die Hand und nicht die rechte Seite - des Nachfahren.  Ohnehin scheinen sie sich im Anschluß an diese Handverschiedenheit über ihre nicht ganz gleiche Körpergestalt auseinandergesetzt zu haben.  Denn abgesehen davon, daß Utnapischtim schon beim Herannahen des Fremden den Unterschied in der Hand bemerkt, müssen sie auch noch von ihrer Unterschiedlichkeit gesprochen haben, mit dem Ergebnis:

Gilgames sagt zu ihm, zu Ut-napistim, dem Fernen:
"Ich schau' dich an, Ut-napistim,
Deine Maße sind nicht anders, gerade wie ich bist auch du....."

Wenn es nicht schon aus anderem Zusammenhang klar wäre, daß die dem Gilgamesch den Sintflutbericht übermittelnde Gestalt des Utnapischtim nur der Ahne schlechthin ist, welchem die Erzählung in den Mund gelegt wird, und daß umgekehrt auch Gilgamesch im Mythos ein Anderer ist als der nachmalige babylonische historische König, an dessen Namen man ehrend das Epos knüpfte, so ginge auch aus der Bemerkung über die Hand und die Körpergestalt hervor, daß der Utnapischtim des Totenreiches nicht deshalb der biblische Noah ist, weil er die Sintflut erzählt, sondern daß hier im Gegensatz zu der jüngeren Menschengestalt überhaupt eine ältere über die von ihr erlebte Sintflut berichtet.  Die Heterogeneität des Gilgameschepos ist ja von Greßmann schon dargetan; es ist darin, gleich Ilias und Odyssee, Mythologisches und Junggeschichtliches, Äußerlich-Historisches und Wesenhaft-Metaphysisches verbunden, ja vielleicht vom späten Verfasser und Verwerter recht unverstanden durcheinandergebracht.  Hier ist nun klar, daß Utnapischtim, der ja nach anderer Sage auch als fellbehaart gilt und dieses Haar nach seiner Vertreibung aus dem Paradies verlor (3), eine ältere Handform besaß; welche - das bleibt dahingestellt; und Gilgamesch als der Spätere besitzt eine andersartige.  Jedoch scheint die Differenz nicht so groß gewesen zu sein, daß sich die Gestalten nicht als gleichen Stammes erkannt hätten.  Das Totenreich, wo sie sich treffen und erkennen, ist ein transzendenter Zustand, in dem Vergangenes nicht mit den äußeren Sinnen wahrgenommen wird.


Wir haben es also bei Utnapischtim mit einer uralten Menschengestalt zu tun; er wird also nicht der Spätmensch mit der spreizbaren Hand, sondern der ältere Typus mit embryonal verwachsenen Fingern gewesen sein.  Ob Gilgamesch selbst als jüngerer Menschentypus die vollendet spreizbaren Finger schon hat, oder ob es sich da um noch andere mögliche Zwischenstufen handelt, läßt sich auf Grund der Sage nicht feststellen; aber so viel mag festgehalten werden, daß wir uns in einem uralten Zeitkreis damit befinden und daß die äußerlich verwachsene Hand dem Zeitcharakter nach in den Gestaltungskreis des Mesozoikums gehört, wo solche Verwachsungen einer vollkommen fünffingerigen primitiven Extremität zwar bei Wassertieren, aber auch in menschlich embryonaler Form bei jenen Sandsteinfährten vorkommen.  Später, wo erst mit Beginn der Tertiärzeit die Säugetierentfaltung dem Paläontologen deutlich sichtbar wird, ist die unreduzierte fünffingerige Landextremität jedenfalls völlig spreizbar.  Wo sie äußerlich verwachsen ist, wie bei manchen wasserbewohnenden Säugern, da ist sie entweder zugleich reduziert und nicht mehr wie bei mesozoischen Wassertieren vollzählig fünffingerig; oder sie gehört Formen an, die man von Landsäugern ableiten muß, deren landbewohnende Vorläufer auf mesozoische Herausbildung deuten, weil sie mit Beginn der Tertiärzeit schon einseitig spezialisiert dastehen. 


Aus diesen, wenn auch geringen Anhaltspunkten - bessere sehe ich derzeit noch nicht - stelle ich die These auf, daß der die Sintflut überdauernde Menschentypus mit der spreizbaren Hand unserer Art mesozoisch ist und allerspätestens schon mit dem Beginn der Tertiärzeit vollendet da war.  Wir werden ihn im Anschluß an die jüdische Überlieferung den "noachitischen Menschentypus" nennen.  Seine Großhirnentwicklung war wohl noch nicht so hochspezialisiert wie die unsere und die des Diluvialmenschen.
Zu einem anderen bemerkenswerten Ausblick führt uns der Bericht über eine andere Menschenform, von der es heißt, daß sie ein Auge oben auf dem Schädel oder ein "Stirnauge" trug (9a).
Nirgends kann man deutlicher sehen, wie die völkische Ausgestaltung einer solchen Sage sich an Fossilfunde knüpfen kann, die in geschichtlicher Zeit gemacht wurden und dann zum Anlaß und zur Unterlage für eine Neuausgestaltung des uralten, urgeschichtlichen Kernes werden konnten.  Abel hat so die homerische Ausgestaltung und Lokalisierung der Polyphemsage auf Reste des Zwergelefanten in sizilischen Höhlen zurückführen vermocht (4).
Polyphem ist der einäugige Riese mit dem großen Kyklopenauge auf der Stirn, der die schiffbrüchigen Genossen des herumirrenden Odysseus, die in seine Höhle eingedrungen waren, erschlägt und dann von dem schlauen Odysseus geblendet wird.  "Nach der Vorstellung der homerischen Griechen", schreibt Abel, "hausten in Sizilien riesenhafte Menschen mit einem einzigen großen Auge auf der Mitte der Stirne.  Warum gerade Sizilien als das Kyklopenland gegolten habe?  In den unweit des Meeres liegenden Höhlen der Gegend um Messina und an vielen anderen Stellen, so bei Palermo und Trapani, finden sich auch heutigentags noch Skelettreste des eiszeitlichen Zwergelefanten.  Man hat sie auch früher gefunden.  Sieht man den Schädel eines solchen Zwergelefanten mit den Augen des Laien an, so fällt sofort das riesige Stirnloch auf (Fig. 2.).


Fig.2 (Bildquelle/-text: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit" v. Edgar Dacqué, 8. Aufl. 1938, R. Oldenbourg)
Elefantenschädel mit der Nasenöffnung, ein Stirnauge vortäuschend.  Stark verkl.  (Aus O. Abel, Kultur der Gegenwart  a. a. O. 1914)


Es ist die Nasenöffnung; die Augen stehen seitlich am Schädel.  Die homerischen Irrfahrer kannten den Elefantenschädel als solchen nicht; die gewölbte Form ließ auch einen Vergleich mit einem Menschenschädel am ehesten zu, und daraus ergab sich die Vorstellung riesenhafter stirnäugiger Wesen.  Seefahrer der homerischen oder vorhomerischen Zeit waren wohl die ersten, welche von diesen Giganten Kunde in ihre Heimat gebracht haben.  Sie konnten in einer Strandhöhle Siziliens Schutz vor Unwetter gesucht und beim Anzünden des Lagerfeuers einen aus dem Höhlenlehm aufragenden Elefantenschädel erblickt haben.  Alles andere ist spätere Zutat.  Eine Zeit, die geneigt war, überall Götter und Göttersöhne zu sehen und überall übernatürlichen Erscheinungen zu begegnen, formte aus diesem Fund zuerst den lebendigen Riesen und zuletzt die ganze Sage von der Bekämpfung und Überlistung des Ungetüms."

Ich will nicht leugnen, daß die homerische Ausgestaltung der Polyphemsage mit diesem Tatsachenbestand unmittelbar zusammenhängt, und halte die Frage, soweit sie jenes literarhistorische Problem betrifft, hiermit von Abel für glücklich gelöst.  Aber ich glaube nicht, daß er damit dem Kern sehr nahe gekommen ist.  Es muß schon stutzig machen, daß die Nachricht vom stirnäugigen Riesen oder Menschenwesen auch aus ganz anderen Kulturkreisen zu uns gedrungen ist, worauf die Abelsche Erklärung nicht paßt.  Beispielsweise lesen wir in "1001 Nacht" von einem hohen Berg (5), auf dem eine große Säule stand; darauf saß eine Statue aus schwarzem Stein, die einen Menschen vorstellte mit zwei großen Flügeln, zwei Händen wie die Tatzen eines Löwen, einem Haarschopf mitten auf dem Kopf, zwei in die Länge gespaltenen Augen, und aus der Stirne stach noch ein drittes häßliches dunkelrotes Auge hervor wie das eines Luchses.  Eine andere Stelle, die doch gar keinen unmittelbaren literarischen und völkischen Zusammenhang mit der homerischen und der arabischen Welt hat, kennt ebenfalls die stirnäugige Menschengestalt: die nordischen Volksmärchen. 
"Eine Mutter war aus uraltem Geschlecht der Menschen, die nur ein Auge mitten auf der Stirn und eine Brust unter dem Kinn hatten" (6).  Auch in dem urweltschwangeren Märchen von der Melusine kommt der Menschen- und Dämonensohn mit dem Stirnauge vor (7).  Ferner zeigen die chinesischen Vasenornamente das Motiv in allen erdenklichen Abwandlungen wieder (Fig. 3.)


Fig.3 (Bildquelle/-text: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit" v. Edgar Dacqué, 8. Aufl. 1938, R. Oldenbourg)
Das Stirnaugenmotiv in verschiedenen Abwandlungen als Ornament auf chinesischen Vasen.
(Aus dem chines. Bilderwerk Pokutulu.)


Das sind doch wohl zu weit auseinanderliegende Zeugnisse, und das uns darin entgegentretende Bild ist - einerlei wie es hier oder dort allegorisch oder symbolisch verwertet und entstellt ist - so universell gleichartig gerade inbezug auf dieses eine Organ, daß demgegenüber die Abelsche Erklärung nicht mehr ausreicht.  Und dies um so weniger, als bei einer gemeinsamen Quelle der Sage die Griechen sie doch eher aus dem östlichen Kreis bekamen als daß sie selbst sie aus Sizilien aufgebracht und nach Osten hinübergegeben hätten.  Und überall hat man auch nicht Fossilfunde wie die sizilischen Zwergelefanten oder die paläozoisch-frühmesozoischen Amphibien- und Reptilschädel gemacht, welche das Scheitel- oder Stirnauge trugen, das rudimentär als Epiphyse oder Zirbeldrüse nicht nur bei späteren Reptilien, sondern auch beim Menschen noch ein wichtiges Gehirnorgan geblieben ist.


Es sei auf den vorigen Abschnitt dieses Hauptteiles verwiesen, wo von den für bestimmte Erdzeitalter charakteristischen und offenbar in ihnen allein möglichen Organbildungen die Rede war.  Unter solchen wurde auch das Scheitelauge genannt, das bei niederen Tieren, wie Krebsen, aber auch bei höheren, wie Fischen, Amphibien und Reptilien, im paläozoischen Zeitalter voll entwickelt war und im Mesozoikum fast nur noch von höheren Tieren, Amphibien und Reptilien, getragen wurde, die aus dem paläozoischen Zeitalter herüberkamen.  Alle jüngeren Typen unter ihnen zeigen es in stark rückgebildetem Zustand oder überhaupt nicht mehr.  Die Säugetiere hatten es vielleicht nur in allerältester Zeit, später aber sicher nicht mehr.  Die Formen, die es haben, gehen also mit ihrem Typus bis in die letzte Zeit der paläozoischen Epoche zurück.  Beim Menschen nun haben wir jenes von der Großhirnhemisphäre eingeschlossene rudimentäre Organ, die Zirbeldrüse, welche in ihrer Fortsetzung dem ehemaligen Scheitelauge entspricht, wenn man die Entfaltung des Großhirns hintangehalten denkt.  Man kann sich vorstellen, daß durch die Entfaltung des Großhirns jenes Organ unterdrückt und nach innen verlagert wurde und daß es vermutlich ehemals teilweise an Stelle des Großhirns funktioniert haben wird, wenn auch mit andersartiger Tätigkeit.  Die starke Gehirnentwicklung ist aber eine für das Säugetier, namentlich für das bisher fast allein bekannte Säugetier des Tertiärzeitalters, die wesentliche Organbildung gegenüber den älteren amphibischen und reptilhaften Typen der höheren Tierwelt.
Mit dieser Gehirnentwicklung aber hängt vielleicht die in der Sagenüberlieferung öfters ausdrücklich erwähnte Kleinheit der jüngeren Menschengestalt gegenüber der älteren zusammen.  Denn in der neueren Medizin und Anatomie ist die Bedeutung der Zirbel des Menschen in ein Licht gerückt worden, das seinerseits auf diesen urgeschichtlichen Zusammenhang zurückstrahlt.  Danach (8) ist sie eine Art Sinnesorgan, das wenigstens bei den Säugetieren nichts mehr von einer Sehfunktion besitzt.  Bei Mißbildungen allerdings kommt sie gelegentlich als epizerebrales Auge noch zum Vorschein, was als Atavismus, d.h. als Rückschlag in die Ahnenform angesehen wird.  Ihre derzeitige Bedeutung beim Menschen erstreckt sich aber auf Sekretausscheidungen für die Genitalsphäre, und sie ändert sich auch während der Schwangerschaft in Größe und Form.  Sie sollen auch mit den sekundären Geschlechtscharakteren und auch mit der intellektuellen Reife zusammenhängen, welche erst mit beginnender Rückbildung der Zirbeldrüse einsetzt.  Deren Zerstörung in einer frühen Lebensperiode führt zu körperlicher und geistiger Frühreife und gelegentlich auch zu Riesenwuchs.  Bei noch nicht ausgewachsenen Tieren läßt sich nach operativer Entfernung des Organs ein völliger Stillstand des Wachstums erkennen, wie auch umgekehrt die Beseitigung der sexualen Keimdrüse eine Vergrößerung des Zirbelorgans nach sich zieht.  Wir haben jedoch, wie die übrigen Säugetiere, noch eine andere Ausstülpung am Gehirndach, die sich zusammen mit der Zirbel anlegt, die Paraphyse.  Beide Organe sind rückgebildet und haben früher Funktionen gehabt, die uns noch unbekannt sind.  "Urväter Hausrat" schleppen wir mit ihnen herum, wie Gaupp es nannte, dem wir eine Darlegung über die Anlage dieser seltsamen Organe verdanken.  Die Hypertrophie dieser Paraphyse führt beim jetzigen Menschen zu Funktionsstörungen oder zu Atrophie der Geschlechtszellen und dies angeblich wieder zu Riesenwuchs.


Bei der schon einmal erwähnten Brückenechse von Neuseeland, jenem altertümlichen kleinen Reptil, das uns schon in der Juraepoche begegnet und dessen Wurzel bis in das paläozoische Zeitalter zurückreicht, ist jenes Parietalorgan noch ein richtiges augenartiges Gebilde mit netzhautartiger innerer Auskleidung eines Hohlraumes, der durch eine Linse nach vorne abgeschlossen ist und auch sonst noch einige mit einem Auge übereinstimmende Einzelheiten aufweist.


Fig.4 (Bildquelle/-text: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit" v. Edgar Dacqué, 8. Aufl. 1938, R. Oldenbourg)
Scheitelauge der neuseeländischen Brückenechse, unter einem dünnen Hautüberzug.  (Nach B. Spencer aus O. Hertwig.  Entwicklungsgeschichte  10. Aufl. 1915.) Vergr.


Dies ist auch noch bei Blindschleiche, Chamäleon und Eidechse der Fall.  Bei den Säugetieren wie beim Menschen dagegen ist das Organ stark rückgebildet und rückwährend der embryonalen Entwicklung immer mehr von außen nach innen.  Ursprünglich waren die beiden in Verbindung stehenden Organe (Paraphyse und Zirbel) paarig und erscheinen so in ihren frühesten erdgeschichtlichen Entwicklungsformen bei altpaläozoischen Panzerfischen und einigen merostomen Krebsen.  Aber schon bei den Amphibien und Reptilien der Steinkohlen- und Permzeit erscheint äußerlich nur noch das unpaare Scheitelorgan und ist als solches für die in jener Zeit lebenden höheren Tiere charakteristisch.  Daß es dann später, nach seiner Rückbildung, andere, besonders sexuale Funktionen übernahm, ist eine bei rudimentären Organen gewöhnliche Erscheinung.  Interessant und wichtig ist, daß, wie gesagt, auch das Längenwachstum der Knochen von Irritierungen der Zirbeldrüse abhängig ist und daß ihre Sekrete das Größenwachstum beeinflussen, ebenso wie die Entwicklung des Intellektes; und dies ist umso auffallender, als uns die alten "stirnäugigen" Menschen der Sage als Wesen von besonderer Körpergröße und geringem Intellekt geschildert werden (9).


Haben wir also auch hier wieder guten Grund, einer so alten und vielseitig übermittelten und bei entsprechend vergleichender Naturbetrachtung ein so bestimmtes, lebensmögliches Bild liefernden Sage, wie der von den "Stirnäugigen", menschheitsgeschichtlichen Wahrheitsgehalt zuzuerkennen, so verdanken wir diesen Ausblick dem prinzipiellen Gegensatz zu einer Deutungsweise, die von vornherein die Absicht hat, den realen naturhistorischen Wahrheitsgehalt zu leugnen, wodurch sie stets zu Resultaten gelangt, welche zwar scheinbar eine naturhafte Auslegung geben, aber sich dennoch in ganz naturfremder Allegorisierung erschöpfen.  So heißt es über den Stirnäugigen in einer neueren Mythologie: "Die späteren Vorstellungen von den Kyklopen sind auf eigentümliche Weise zugleich von der Dichtung der Odyssee und von dem alten Bilde der Hesiodischen Feuerdämonen bestimmt worden, nur daß diese jetzt auf vulkanische Gegenden der Erde übertragen werden, wo sie fortan als Schmiede des Hephästos arbeiten.  So besonders in der Gegend am Ätna in Sizilien, welche die auffallendsten Merkmale sowohl von poseidonischen als von vulkanischen Naturrevolutionen aufzuweisen hatte...  Dahingegen Polyphemos der Odyssee zuliebe auch fernerhin in der Volkssage und Dichtung seine besondere Rolle spielte...."
Wir haben gegenüber solchen Auslegungen immer wieder Anlaß, unserer bisherigen Betrachtungsweise vertrauend zu folgen und der alten Überlieferung vom stirnäugigen Menschenwesen naturgeschichtlichen Wert beizumessen und können bedingungsweise sagen: Wesen höherer Art mit einer geringen Großhirnentwicklung und einem vollentwickelten "Stirnauge" können nur jungpaläozoischer Herkunft sein und noch im Mesozoikum gelebt haben.  Das Scheitel- und Stirnauge hat wahrscheinlich eine Funktion gehabt, womit es spätere intellektuelle Fähigkeiten auf andere, uns infolge der Rückbildung dieses Organs nicht mehr unmittelbar verständliche Weise zum Teil oder ganz ersetzte und hat daher wohl einem uns unbekannten Sinn oder einem anderen Zusammenhang der Sinne entsprochen.  Mit der mesozoisch-tertiärzeitlichen Gehirnentwicklung des Menschenstammes ist dieses Organ und damit auch die ältere, körperlich wohl größere und daher vielleicht auch ein höheres individuelles Alter erreichende Menschengestalt verschwunden und hat dem noachitischen Gehirnmenschen mit spreizbaren Fingern und gewölbtem, völlig geschlossenem Schädel Platz gemacht.  Wir nennen jenen älteren Menschentypus den "nachadamitischen" oder "vornoachitischen", weil wir ihn von dem jüngeren noachitischen, aber auch von einem noch älteren adamitischen und einem uradamitischen zu unterscheiden gedenken (10).


Nach diesen Feststellungen tritt vielleicht eine figürliche Darstellung in ein helleres Licht, die sich in der mittelamerikanischen, in Dresden aufbewahrten Mayahandschrift (11) findet, woraus ein bezeichnendes Feld nachstehend in einer Reihe mit zur Abbildung gebracht ist (Fig. 5b).


Fig.5 (Bildquelle/-text: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit" v. Edgar Dacqué, 8. Aufl. 1938, R. Oldenbourg)
Dreigeteiltes Bildfeld aus der Dresdener Mayahandschrift.  (Die welligen Schraffierungen sind Wasser, die schwarzen Punkte und Linien deuten wohl auf das Totenreich.)


Die Geschichte der Mayas, wie auch der Sinn jener viele Blätter umfassenden Bilderschrift und ihrer Hieroglyphen liegt noch sehr im Dunkeln.  In dem bezeichneten Bildfeld fahren zwei menschenhafte Wesen ganz verschiedener Gestalt über das Wasser.  Die hintere, dämonenhaftere Gestalt rudert, die vordere menschenhafte, weiblich dargestellte macht eine Geste des verwunderten oder überraschten oder beobachtenden Schauens.  Bewegung und Charakter des Ruderers hat entschieden etwas Aktivieres, auch Brutaleres im Gegensatz zu Haltung und Gestalt des Menschen, der vergeistigt aussieht; die hintere Gestalt hat etwas fratzenhaft Dämonisches, die vordere etwas kultiviert Menschliches.  Was besonders auffällt, ist die Andeutung eines Stirnauges beim Rudererdämon und das, daß seine Hand plump ist, einen sehr großen opponierbaren Daumen, wie ein mesozoischer Iguanodon, und wieder die verwachsene, embryonalhaft anmutende Fläche hat.  Sobald wir das Bild so sehen und uns an das erinnern, was wir über den Urmenschen fanden, gibt es vielleicht für dieses Feld eine gewisse Deutungsmöglichkeit.  Entweder gehört es zu einer symbolischen Erzählung über die Stammesfolge des Menschen, worin der stirnäugige, dämonischer veranlagte Typus mit dem größeren brutaleren Körper und den verwachsenen Fingern eine Rolle spielt gegenüber dem noachitischen Typus mit der vollendeten Hand und dem jetztmenschlichen Antlitz; oder es ist gar eine ähnliche Erzählung wie die vom babylonischen Gilgamesch, der mit dem Schiffer und Stammesgenossen seines Ahns über das Meer oder in das Totenreich fährt und dort Visionen hat, wie das unmittelbar links folgende Bild (Fig. 5a) anzudeuten scheint; also vielleicht ein uralter, zu junger Zeit in Bildern- und Hieroglyphenschrift wiedergebrachter Bericht, daß - sie fahren von Osten her - einst ein Menschenwesen mit der "sonderbaren Rechten" über das Meer oder in das Totenreich gefahren kam; also vielleicht im Grund dasselbe, was uns im Gilgameschepos hinter einem verwirrten Schleier und symbolisch, aber unverkennbar doch wieder auf Urhistorischem fußend, übermittelt wird, nur hier vom Westufer des Atlantischen Ozeans statt vom Ostufer aus gesehen und noch einmal überliefert?  Auch auf die Ähnlichkeit der Hand eines anderen Dämonen (Fig. 6) mit einer Embryonalhand, außerdem auch mit den paläozoisch-mesozoischen Sandsteinfährten sei hingewiesen.


Fig.6 (Bildquelle/-text: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit" v. Edgar Dacqué, 8. Aufl. 1938, R. Oldenbourg)
Dämon aus der Dresdener Mayahandschrift ist mit verwachsener embryonaler Hand.


Besaß nun, um zum Typus des nachadamitischen stirnäugigen Urmenschen zurückzukehren, dieser gleich der höheren Tierwelt um ihn herum jenes merkwürdige Sinnesorgan, so ergibt sich daraus auch ein Rückschluß auf die Gestaltung seines Hauptes: es muß einer hochgewölbten Schädelkapsel zur Aufnahme eines Großhirns entbehrt und statt dessen eine zugespitzte oder rasch nach rückwärts laufende Form, keine abgesetzte, also eine flache, liegende Stirn gehabt haben oder nur ein hocherhobenes Hinterhaupt, wo das noch wesentlich kleinere Großhirn mehr hintenoben lag und auf welcher das Parietalauge dominierte.  So werden uns mancherorts diese Menschen auch in der Sage geschildert; und vielleicht deutet auch die indianische Sitte, den Köpfen durch Einschnüren zwischen Brettchen von Jugend auf unter Zurückdrängung der Großhirnkapsel jene spitze Form zu verleihen, auf ein traditionelles Wissen um jenes uralte Organ, oder hat zum unbewußten Ziel die Wiederfreilegung des Rudimentes, um so einen Anreiz zu seiner Wiederentfaltung zu geben und sich schließlich wieder in den Besitz jener alten Wirksamkeit zu setzen.
Dieser Auffassung kommt eine Sage zu Hilfe, die in dem Bibelbuch jener zentralamerikanischen Quiche-Indianer steht (12).  Dort wird von der Erschaffung schöner und vollendeter Menschen nach der Sintflut erzählt.  Aber da sie so vollkommen waren, fürchteten die Götter, daß sie ihnen gleich werden wollten.  Daher schwächten sie die körperliche Sehkraft der Neugeschaffenen.  So sank ihr Wissen und ihr Erkenntnisvermögen; sie konnten nur mehr das in der Nähe Befindliche sehen, während ihre Blicke früher in unermeßliche Ferne geschweift waren.


Daß der spätere noachitische Mensch, der das mesozoisch-tertiäre Säugetier im Menschen repräsentiert, wie alle Gattungen, nicht an einem einzigen örtlichen und stammesgeschichtlichen Punkt seinen Ausgang nahm, sondern jedenfalls aus vorher schon typenhaft verschiedenen Spezialzweigen des Gesamtmenschenstammes entsprang, ist aus allgemein entwicklungsgeschichtlichen Erfahrungen über das Werden der Formen sehr wahrscheinlich.  Übrigens nimmt man auch für den Diluvialmenschen eine vielstämmige Entstehung an.  Auch hierfür bieten uns die Sagen, wenn wir ihnen folgen wollen, allerhand Anhaltspunkte.  So ist es nicht unmöglich, daß unter den frühtertiärzeitlichen Menschenwesen, deren vollendetster Typus wohl der noachitische war, auch solche mit sehr tierischen Eigenschaften des Körperbaues sich noch befanden.  Hierfür sei nur auf eine Sage der Fidschi-Insulaner verwiesen, wonach die Geretteten der Sintflut nur acht Stämme betrugen; zwei gingen zugrunde und von denen bestand der eine nur aus Weibern, der anderes aus Menschen mit einer Art Hundeschwanz (13).  Der Hunde- oder Affenschwanz kehrt ja mancherorts in der Überlieferung wieder.  Und wenn er auch späterhin vielfach zur Verspottung oder zu allegorischen Fabelgeschichten benützt wurde, so klingt doch die uralte Bedeutung durch, was umso wichtiger erscheint, als ja der jetzige Mensch am Ende der Wirbelsäule das deutliche Rudiment eines Schwanzes hat.
Der noachitische Mensch hat die große Sintflut erlebt.  Daß danach noch niedere, auf die schon höher entwickelten noachitischen Menschen wie tierisch wirkende Gestalten sich fortplanzten und allmählich menschenhafter wurden, schimmert gerade noch in einer Indianersage durch, wo es heißt, nach der Flut sei die Erde durch Verwandlung der Tiere in Menschen wieder bevölkert worden (14).
Wer weiß, was alles an Menschentypen und Menschenarten und -abarten in den erdgeschichtlichen Jahrmillionen durch die Welt gegangen ist.  Ich glaube, wir können uns die Völker gar nicht mannigfaltig genug vorstellen.  Ebenso wie die Säugetiere der Tertiärzeit in vielen grundverschiedenen Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten lebten und verhältnismäßig rasch kamen und gingen, dabei hervorkamen aus Stammlinien und Typen, die wir bis jetzt nicht imstande sind, genetisch miteinander zu verbinden, so mag es auch mit der Verschiedenartigkeit der Menschenstämme und -typen gewesen sein.  Und so gibt es auch Platz, die vielen Sagen und Vorstellungsbilder von Menschen mit Vogelgesichtern oder Hundsköpfen, von kentaurischen oder faunischen, oder von ebenmäßigen Körpern mit sylvenhafter Zartheit und Schönheit reden zu lassen und ihnen naturhistorischen Sinn abzugewinnen.  Es soll dies aber nicht dahin mißverstanden werden, daß etwa Faunen und Kentauren oder Riesen und Zwerge selbst wirkliche Menschenwesen in ihrem sagenhaften Abbild seien; vielmehr sind solche Gestalten vom Menschen erkannte Wesenheiten, die dem ursprünglichen naturverbundenen Menschen eben jene unmittelbar geschauten Wirklichkeiten waren, die wir Naturkräfte nennen, die aber lebendig wesenhaft erschienen und erscheinen mußten jenen Menschen, die mit einer entsprechenden, natursichtigen Seele begabt waren.


Abgesehen von der allgemein bekannten und hier nicht zu wiederholenden biblischen Überlieferung, daß sich nach der Sintflutkatastrophe die noachitischen Menschensöhne über die Erde als verschiedene neue Grundrassen ausgebreitet haben, liefert uns die Sagengeschichte noch zwei markante Erzählungen, die zwar nicht im Wortlaut, wohl aber im Sinn ziemlich gleich sein dürften, zumal die eine die andere wertvoll ergänzt und beleuchtet.  Es ist die griechische Überlieferung vom noachitischen Deukalion und die babylonische vom wilden Gebirgsmenschen Engidu.  Es sind neue Rassen.  Wenig rein und offenbar aus dritter und vierter Hand übernommen, tritt uns in der griechischen und ovidischen Überlieferung der Sintflutsage ein Anklang entgegen daran, daß ein nachsintflutlicher Menschenstamm aus dem rauhen Gebirge als seiner ursprünglichen Heimat gekommen ist.  Man hat ja oft überlegt, was es heißt, daß Deukalion mit seinem Weib Pyrrha Steine hinter sich wirft und dadurch neue Menschen erzeugt.  Erinnern wir uns, daß hier eine symbolische und von der Spätzeit, die es überlieferte, nicht mehr verstandene Sprache ertönt und daß es in älterer vorovidischer Überlieferung nicht heißt: sie warfen Steine hinter sich, sondern: sie warfen das Gestein des Gebirges hinter sich (15), also mit anderen Worten: sie ließen die Felsen des Gebirges hinter sich, woher sie gekommen waren.  Vergleichen wir nun hiermit die im Gilgameschepos viel klarer und naturhafter berichtete Sage vom Hereindringen einer jungen wilden, eben erst geschaffenen Rasse aus dem Gebirge, wo sie sich noch herumtummelt mit dem Vieh, kulturlos lebend, und dann in den alten Kulturkreis des Gilgamesch eindringt.  Im weiteren Verlauf ist mit dieser unverkennbaren Parallele wieder eine Art Vertreibung aus dem Paradies naturhafter Unschuld verbunden, wie sie in der Bibel dem Adamiten zugeschrieben wird, so daß hier, wie gesagt, die Stoffe durcheinandergewoben zu sein scheinen.  Der Inhalt (16) der wichtigen Zeilen ist, mit einigen Auslassungen, folgender:

Als Aruru dieses hörte,
Schuf sie in ihrem Herzen ein Ebenbild (?) Anu's;....
Lehm kniff sie ab, spie (?) darauf ....
Schuf einen Helden, einen erhabenen Sproß.....
[Bedeckt] (?) mit Haar war sein großer Körper.....
Er wußte nichts von Land und Leuten;
Mit Kleidung war er bekleidet....
Mit den Gazellen ißt er Kräuter,
Mit dem Vieh versorgt er sich an der Tränke,
Mit dem Gewimmel des Wassers ist wohlgemut sein Herz.
Einem Jäger ... stellte er sich entgegen .....
[Es s]ah ihn der Jäger, da ward sein Antlitz verstört .... er schrie:
"[Mein] Vater, [ein] Mann, der gekommen [ist vom Gebirge],
[Im Lande] ist stark [seine] Kraft ......
Er geht einher auf dem Gebirge b[eständig (?)]....."

Es sind uns jetzt aus den dürtigen Anhaltspunkten, welche sich aus den mit naturhistorischen Tatsachen und Möglichkeiten verglichenen Sagen gewinnen lassen und die sich wohl für den Sagen kenner noch treffender belegen oder vermehren und in ein besseres Licht rücken lassen, als wir es dürftig können - es sind uns jetzt zwei Hauptmenschenstämme nahegerückt, von denen wir den noachitischen als den des Säugetierzeitalters, also wesentlich der spätmesozoischen und Tertiärzeit ansprechen, weil ihm die alten Eigenschaften des Scheitelauges fehlt und seine Hand unverwachsen ist.  Er dürfte in zurückgedrängter Stellung und Zahl schon seit der Permzeit und im frühmesozoischen Zeitalter existiert haben; vielleicht, wie vermutlich alle anfänglichen Säugetiere, noch mit einem kleinen Stirnauge begabt gewesen sein und wohl, wie die mesozoische höhere Tierwelt überhaupt, zunächst noch keinen vollständig aufrechten Gang gehabt, sondern diesen vom vierfüßig kriechenden oder gehenden Zustand her erst während des Mesozoikums erworben haben.  Der andere Menschenstamm ist der vornoachitische gewesen, mit Scheitelauge und verwachsener Hand, den wir mangels eines treffenden Personennamens den nachadamitischen Menschentypus oder den vornoachitischen nennen wollten und dessen Lebenszeit wesentlich mit dem permisch-mesozoischen Zeitabschnitt zusammenfallen wird, besonders mit dem ganz früh- und mittelmesozoischen, wo, wie gezeigt, jene hervorstechenden Körpermerkmale vollendet als Zeitsignatur noch im Tierreich bestanden haben.  Er muß entsprechend der Entfaltung seines Parietalauges bis in die Oberpermzeit mindestens zurückgehen, und dort dürfen wir hoffen, Anhaltspunkte für den "adamitischen", d. h. den ersten, frühesten, fremdartigsten Menschentypus zu finden.


Wie müßte dieser aussehen, wenn wir ohne Nachricht durch die Sagen versuchen, ihn uns aus der Anatomie des Spätmenschen einerseits und aus der Zeitsignatur jener Epoche bei den Tieren andererseits abzuleiten?  Er wird noch stark amphibienhafte Merkmale besessen haben; seine Hand wird verwachsen fünf- bis siebenfingerig ohne opponierbaren Daumen, vielleicht sogar zum Schwimmrudern im Wasser geeignet, sein Stirnauge klein oder doppelt, seine Körperhaut geschuppt, teils gepanzert gewesen sein; denn gerade das ist der Zeitcharakter der ältesten Landbewohner.
Wir finden in den Sagen wenig, was auf jenen Urzustand des Menschenwesens deutet; aber ganz vereinzelt klingt doch einiges an.  So heißt es in einer bekannten, öfters abgebildeten indianischen Bilderschrift, wo auch die Sintflut beschrieben ist, von dem Großvater der Menschen und Tiere, daß er kriechend geboren war und sich auf dem aus dem Meer auftauchenden Schildkröteneiland bewegen kann (17).  Ferner heißt es in einer vom Babylonier Oannes übermittelten Sage: Im ersten Jahre nach der Schöpfung sei aus dem erythräischen Meer ein vernunftbegabtes Wesen erschienen mit einem vollständigen Fischleib.  Unter dem Fischkopf aber war ein menschlicher Kopf hervorgewachsen und Menschenfüße aus seinem Hinterende oder Schwanz; es hatte auch eine menschliche Stimme, und sein Bild wird bis jetzt aufbewahrt.  Dieses Wesen verkehrte den Tag über mit den Menschen, ohne Speise zu sich zu nehmen, gab ihnen die Kenntnis der Schriftzeichen und Wissenschaften, lehrte sie Städte und Tempel bauen, Land vermessen, Früchte bauen.  Seit jener Zeit habe man nichts anderes darüber Hinausgehendes erfunden.  Mit Sonnenuntergang sei dieses Wesen wieder in das Meer hinabgetaucht, habe die Nächte in der See verbracht, denn es sei amphibienartig gewesen.  Später seien noch andere ähnliche Wesen erschienen.  Ein solches mit Fischleib, jedoch mit Armen und Füßen des Menschen, habe die Sternkunde gelehrt (18).
Wenn man einen Widerspruch darin sehen will, daß dieses älteste amphibische Menschenwesen zu den Menschen gekommen sei, daß es mithin schon Menschen gegeben habe, jenes also auch keine stammesgeschichtliche Anfangsform gewesen sein könne, so ist demgegenüber erstens denkbar, daß nur die sinnbildliche Ausdrucksweise der Erzählung den Widerspruch mit sich bringt.  Denn daß das amphibische Menschenwesen zu den Menschen kommt, braucht ja nichts anderes zu heißen, als daß es selbst zum Menschen wurde.  Ein solches, erst menschenwerdendes Wesen mußte ja, sobald seine Menschenhaftigkeit einsetzte, auch der Umwelt mit Bewußtsein oder instinktiv hellsichtig gewahr werden; und da zu den ältesten überwältigendsten Eindrücken auf die Menschenseele der ungreifbare funkelnde Nachthimmel gehört, so begann alsbald in seiner Seele, in seinem Bewußtsein das zu erwachen, was in den ältesten mythischen Zeiten des Menschendaseins mit dem Schauen und dem natursichtigen Durchfühlen der Sternenwelt und ihres Zusammenhanges mit der irdischen Natur verbunden war; denn der Sinn des Wortes Sternkunde oder gar Astronomie ist hier spätzeitlich.  Andererseits kann man, wie es meiner Auffassung weit mehr entspricht, bei dem wörtlicheren Inhalt der Sage bleiben und muß dann, wie oben schon angedeutet, folgern, daß neben einem amphibischen Urtypus des Menschenwesens bereits ein terrestrischer bestand, der sich auf einer anderen Stammbahn entwickelt hatte und daß daher beide in ihrer verschiedenen Entwicklungsart genetisch nicht unmittelbar zusammenhingen.  Denn es ist wahrscheinlich und würde der Entwicklung der übrigen Tierwelt entsprechen, daß selbst einander sehr nahestehende Typen vielstämmigen Ursprungs sind, so daß auch einzelne Typenkreise innerhalb des Gesamtmenschenstammes verschiedenartig entstanden und organisiert und an verschiedene Lebensbedingungen angepaßt waren.  Auch dafür gibt es in der Überlieferung einige Anhaltspunkte.  So lesen wir bei Moses, daß die Adamssöhne in ein anderes Land gingen und dort der Menschen Töchter freiten; wir vernehmen dort und sonstwo in den Sagen, daß es gewöhnliche Menschen gegeben habe und vom Himmel gekommene Engel und Kinder Gottes, die an der Menschen Töchter Gefallen fanden und sich mit ihnen zusammentaten.


Nach den schon erwähnten Entdeckungen Westenhöfers (siehe vorigen Artikel) an einigen inneren Organen des Menschen hat vielleicht in vortertiärer Zeit auch ein an das Wasserleben angepaßter Typ des Menschenstammes existiert.  Dieser Forscher, der von unserem Gedankengang nichts wußte, schreibt: "Solche Wasserzeiten für den Menschen könnten ganz gut zur Kreidezeit und noch früher bestanden haben.  Die menschliche Tradition reicht außerordentlich weit zurück, und sicher ist, daß der Mensch nichts erfinden kann, was nicht wirklich existiert....  So ist z. B. für mich die Sage von Beowulfs Kampf mit dem Drachen unter dem Wasser ein Hinweis, daß der Mensch im Wasser mit solchen Drachen lebte und kämpfte."  Nun ist eine der hervorstechendsten Zeitsignaturen der mesozoischen Epoche die damals einsetzende und sich vollendende Anpassung vieler Landtierstämme an das Wasserleben.  Es sind meistens Reptilien; aber auch die erst im Tertiärzeitalter erscheinenden Wassersäugetiere deuten alle schon auf eine mesozoische Herausbildung ihrer Form hin.  Es könnte also auch der Menschenstamm selbst damals eine an das Wasser angepaßte Gestalt nebenher entwickelt haben.  Auch diese Deutung läßt sich auf die babylonische Sage, daß jenes Fischwesen schon zu fertigen Landmenschen gekommen sei, anwenden.
Außer jener babylonischen Urmenschensage haben wir noch Überlieferungen, die noch einen echten adamitischen Menschentypus schildern; sie behandeln das Aussehen von Adam und Eva bei ihrer Vertreibung aus dem Paradies.  Nach der einen Version waren sie behaart wie der Wildmensch Engidu im Gilgameschepos; das Haar fiel ab und sie wurden nackt.  Nach der anderen Lesart aber hatten sie einen Hornpanzer wie Krebs und Skorpion.  "Die Haut war ähnlich unseren Nägeln", heißt es in der mohammedanischen Überlieferung.  Es war ein hornartig weicher glänzender roter Panzer, der nun allmählich abging; nur die Zehen- und Fingernägel sind noch Überbleibsel davon (19).
Ob der von Berossus überlieferte Fischmensch als ältester Typus des Menschenstammes und ob der auch im Gilgameschepos seine Rolle spielende Skorpionmensch der alten Sage, wo er als Schreckgestalt, aber doch als menschlich umgängliches Wesen erscheint, an jenen geschuppten und gepanzerten Urmenschenkörper des Adamiten anknüpft, ob er nur eine Verzerrung oder eine Parallelgestalt zu ihm ist und irgendwie mit dem erdgeschichtlich ältesten Adamiten zu tun hat, ist nicht recht ersichtlich.  Jedenfalls ist eines geeignet, ein Licht auf die Sache zu werfen.  Fragt man sich, was im körperlichen Sinn Skorpionmensch bedeuten kann, so ist es eben jenes Wesen mit gepanzerter und wahrscheinlich stacheliger oder knotiger Haut.  Für solche gepanzerten und stacheligen Wesen ist aber die jüngere Phase des Paläozoikums bis herauf zum Ende der Permzeit jene Zeitspanne, worin solche Gestalten erscheinen: geschuppte Amphibien und Reptilien, zum Teil sogar mit Dornfortsätzen auf dem Körper, insbesondere dem Rücken und am Schädel; so daß hier immerhin Andeutungen einer allerältesten Zeitsignatur vorliegen könnten, an der auch der älteste Teil des Menschenstammes Anteil gehabt haben könnte.  Wir hätten dann in jenen gepanzerten Typen der Sage den "uradamitischen" Menschentypus vor uns, dem verfeinerteren, wenn auch noch hornhäutigen Adamiten vorausgehend.
Daß Siegfried im Grund vielleicht ein solcher Adamit ist, läßt sich vermuten an folgender, ganz offenkundiger Parallele: Siegfried hat eine Hornhaut, vom Drachen.  Sie fällt nach der deutschen Sage von ihm ab oder wird wertlos, als er Verrat übt und daher wieder verraten werden kann.  Es ist das Motiv der Schuld, wie im Sündenfall des Adam.  Und in der jüdischen Überlieferung, welche in die Volkssage der Kleinrussen übergegangen ist, heißt es: "Noch lange ehe der erste Mensch gesündigt hatte, war er auf dem ganzen Körper mit solchem Horn, wie wir es an den Nägeln haben, bedeckt.  Und es verlangte ihn weder nach Kleidern, noch nach Schuhen, wie uns jetzt.  Als er aber sündigte, fiel das Horn von ihm ab (20)."  Ob auch in dem gepanzerten Achill noch der unverstandene Anklang an den hornhäutigen Adamiten steckt?


Es ist eine alte, tief wahrhaftige Anschauung, die uns in einem letzten modernisierten und symbolisierenden Ausklang noch in Herders "Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit" begegnet, daß im Menschenwesen körperhaft und seelisch - wir würden sagen entelechisch - alles enthalten sei, was die lebende Natur bildet, wie auch dies, daß die lebende Natur des Menschen körperliches und seelisches Werden widerspiegelt.  Auch hier haben wir einen Mythus voller Wirklichkeit.  Wie wahr, wie tief, wie unentrinnbar bestimmend er ist, zeigt uns ein Blick in die ihm scheinbar ausschließend entgegenstehende naturwissenschaftliche Abstammungslehre.  Wir finden in ihr den Gedanken, daß der Mensch im Lauf der Erdgeschichte alle Stadien vom niedrigen einzelligen Wassertier über den Wurm, den Fisch, das Amphibium und das Säugetier bis herauf zu seinem quartärzeitlichen Menschendasein durchlaufen habe.  Dann kam das biogenetische Grundgesetz hinzu, wonach die embryonalen Formzustände des menschlichen Einzelindividuums der Reihe nach, wenn auch in vielem verschoben und verdeckt, die allgemeinen Formzustände dieser Ahnenreihe wiederholen sollten.  Zuletzt wurde diese ganze Lehre aus dem Organisch-Physischen heraus auch auf die Entwicklung der Sinne und des Geistes, wie der Kulturseelen, übertragen.
Macht man sich klar, was das heißt, so war es nichts anderes als dies, daß der Menschenstamm einmal eine Amöbe, ein Fisch, ein Amphibium usw war, daß also das Amöb, der Fisch, das Amphibium auch Formzustände des Menschen waren.  Das ist hinwiederum gar nichts anderes als die von uns vertretene Vorstellung, daß der Mensch naturhistorisch ein uralter, auch die übrigen organischen Formzustände mit umfassender Stamm ist.  Denn auch die bisherige Form der Abstammungslehre, wie sie ja fast allgemein noch gültig ist oder bis vor kurzem es wenigstens noch war, ist ja nicht der Meinung gewesen, daß irgend ein heutiges Amöb oder Amphibium der Ahne des Menschen sei, sondern daß es eben andere, geologisch ältere waren, die entweder nur auf einer Linie oder auf mehreren, durch viele sonstige tierische Zwischenstadien, zum Menschen wurden und von denen sich gelegentlich Seitenzweige ablösten und in entwicklungsgeschichtliche Sackgassen gerieten und Nichtmenschenhaftes hervorbrachten.  In diesem Gedanken sind, das darf man wohl sagen, die biologischen Naturforscher wesentlich einig, wenn sie überhaupt eine Evolution zugeben (21).
So haben wir auch in Konsequenz rein naturwissenschaftlichen Zuendedenkens den Beweis, daß eine andere Vorstellung vom Kommen und Werden des Menschen gar nicht vorhanden und wahrscheinlich überhaupt nicht möglich ist als die, welche uns als älteste und festgeschlossenste Lehre in allen Mythen und Religionen entgegentritt: daß der Mensch ein eigenes Wesen, ein eigener Stamm ist, uranfänglich gewesen, was er sein und werden sollte, wenngleich mit allerlei grundlegenden Veränderungen seiner Gestalt; und daß er, körperlich und seelisch mit der Tierwelt stammesverwandt, doch als die von Uranfang an höhere Potenz die anderen aus seinem Stamm entlassen haben muß, nicht umgekehrt.  Die volle Entfaltung der reinen, jetztweltlichen Menschenform trat dann ein, als zuletzt auch die in ihm latente Affenform aus ihm entlassen war, ebenso wie er durch Entlassung früherer Formpotenzen immer jetztweltmenschlicher schon geworden war - vom Faun zum Apoll.  Und Apoll tötete dem Zeus seine Kyklopen und deren Söhne; so berichtet die wissende Sage (22).


Die letzte Phase des Menschenwerdens, die wir allein bis jetzt in der Naturforschung als solche anerkannt sehen, hat sich damals abgespielt, als in der Tertiärzeit in allen Stämmen Affenmerkmale und Menschenmerkmale als Zeitsignatur ausgebildet wurden, wie im vorigen Abschnitt schon gezeigt wurde.  Damals dürften sich jene halb tierischen, halb menschlichen Gestalten gezeigt haben, von denen viele Sagen berichten, die sich aber darin zu widersprechen scheinen, daß sie bald affenartige Tiere aus dem Menschen, bald Menschen aus affenartigen Tieren hervorgehen lassen.  Wenn die Tibetaner das Letztere zu berichten wissen, die malayischen Märchen dagegen eine Geschichte von einem bösen Menschensohn, der verflucht und zum Affen wurde, so ist eben beides möglich und kein Widerspruch zueinander und zu unserer Theorie.  Denn in den sich bei der Evolution überschneidenden Formenkreisen mußte in der Zeit der anthropoiden und pithekoiden Formgestaltung sowohl im Primatenstamm Menschenähnliches, wie im Menschenstamm Affenähnliches als biologischer Habitus erscheinen.  Und solche Konvergenzformen, wenn sie einmal fossil gefunden würden, wären von neuem geeignet, Verwirrung zu stiften und glauben zu lassen, der Mensch stamme von tertiärzeitlichen Tieren her.  Daß solche Habitusannäherungen auf mehreren Linien und in mehreren Formenkreisen möglich waren und tatsächlich vor sich gingen, ist eine selbstverständliche Möglichkeit für den Paläontologen, und sie wird auch in mongolisch-tibetanischer Überlieferung festgestellt.  Dort heißt es: Ein König der Affen wurde von einem Chutuktu in die Felsenkluft des Schneereiches gesandt, um Bußübungen auf sich zu nehmen.  Da kam ein weiblicher Manggus, ein feindseliges, verderbliches Geisterwesen zu ihm, von scheußlichem Aussehen, aber mit der Gabe, schön und reizend zu erscheinen, und wollte sich mit ihm vermählen.  Der Affe wies sie zurück, weil sein Büßerstand ihm die Ehe verbiete.  Aber die Manggus führte ihm zu Gemüte, daß sie sonst mit übrig gebliebenen Manggus zusammenkäme und daß sich dann ihr Geschlecht zum Verderben der Bewohner des Schneereiches aufs neue vermehren werde.  In seinem Zweifel vernahm er eine Stimme vom Himmel, er solle die Manggus zum Weibe nehmen.  Mit ihr erzeugte er sechs Junge, jedes mit einer anderen, nur ihm eigentümlichen Gemütsbeschaffenheit.  Nach ihrer Entwöhnung brachte sie ihr Vater in einen Wald von Fruchtbäumen und überließ sie sich selber.  Als er aber nach einigen Jahren hinging, nach ihnen zu sehen, hatten sie sich schon auf fünfhundert vermehrt und bereits alles Obst im Walde aufgezehrt; sie liefen ihm, von Hunger getrieben, mit kläglichem Geheul entgegen.  Der Affe klagte dem Chutuktu, wie er durch Nichtbeobachtung seines Gelübdes nun an dem Dasein so vieler elender Wesen schuld sei und bat ihn, sich seiner Kinder zu erbarmen.  Der Gott warf ihm von der Höhe eines Berges fünf Gattungen Getreide in Menge herab, das nicht nur zur augenblicklichen Sättigung der verhungerten Affen ausreichte, sondern auch wuchs und ihnen für die zukunft Lebensunterhalt bot.  Aber der Genuß des Getreides hatte merkwürdige Folgen: die Schwänze der Affen und die Haare ihres Körpers verkürzten sich zusehends und verschwanden endlich ganz.  Sie fingen an zu reden und wurden Menschen; sie bekleideten sich mit Baumblättern, sobald sie ihre Menschheit bemerkten (23).
So ist also der Vater dieser später zu Menschen werdenden Affen selbst schon ein sehr "menschlicher Affe" gewesen, naturhistorisch ausgedrückt also ein Mensch mit den pithekoiden Zeitmerkmalen, wie wir es ja im Diluvialmenschen noch so stark anklingen sehen.  In dieser bedingten Weise stammt hier also der Mensch vom Affen ab und wird mit der einsetzenden Bodenkultur und dem planmäßigen Getreidebau eben zum Vollmenschen.


Wenn wir also jetzt zusammenfassen, was wir den Überlieferungen entnehmen konnten, so ist es in den Grundzügen dasselbe, was sich im vorigen Abschnitt aus rein paläontologischen Erwägungen als heuristische These über das Alter und die wechselnde Grundgestalt des Menschenwesens ergab, was wir aber jetzt mit anschaulicherem Leben füllen können, während es uns dort nur skeletthaft, gewissermaßen nur fossil, entgegentrat.

Prof. Dr. Edgar Dacqué


(Auszugquelle: Buch "Urwelt, Sage und Menschheit", 8. Aufl., 1938, R. Oldenbourg)




Textanmerkungen/Spezialnachweise:

1) M. J. bin Gorion, Die Sagen der Juden.  I. von der Urzeit.  2. Aufl. Frankfurt a. M.  1919, S. 177

2) Das Gilgamesch-Epos,  Neu übersetzt v. A. Ungnad, erklärt v. H. Greßmann.  Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments.  Heft 14.  Göttingen  1911, S. 49/50.

3) Dähnhardt, Natursagen  I.  S. 226/227.

4) Oth. Abel, Paläontologie und Paläozoologie.  In: Kultur der Gegenwart.  Teil III.  Organ. Naturwissenschaft.  IV.  Abt. Bd. 4: Abstammungslehre usw.  Leipzig und Berlin 1914, S. 303ff.
-, Die vorweltlichen Tiere in Märchen, Sage und Aberglauben.  ("Wissen und Wirken", Bd. 8.)  Karlsruhe 1923.


5) G. Weil, Tausend und Eine Nacht.  Bd. II, S. 272.  5. Abdruck.  Berlin (Ohne Jahreszahl.)

6) Märchen der Weltliteratur, herausgeg. v. A. v. der Leyen.  Nordische Volksmärchen  I. Teil.  Übers. v. Kl. Stroebe.  Jena 1915, S. 137.

7) Deutsche Volksbücher.  (Herausg. v. P. Jerusalem, Ebenhausen-München 1912.)  "Die Historie von einer Frau, genannt Melusine" usw.  S. 385/86.

8) Literatur der Zirbeldrüse (Epiphyse):
M. Flesch, Über die Deutung der Zirbel bei den Säugetieren.  Anatom. Anzeiger.  Bd. III.  Jena 1888, S. 173.
R. Wiedersheim, Vergleichende Anatomie der Wirbeltiere.  7. Aufl. Jena 1909, S. 276; 320.
O. Hertwig, Lehrbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Wirbeltiere.  9. Aufl.  Jena 1910,  S. 562ff.
A. Biedl, Die innere Sekretion.  3. Aufl. Berlin und Wien 1919.


8a) E. Gaupp, Zirbel, Parietalorgan und Paraphysis.  Ergebnisse der Anatomie u. Entwicklungsgeschichte von Merkel u. Bonnet.  Bd. VII  1897.  Wiesbaden 1898, S. 208-85.

9) Auch das individuelle Alter der frühnoachitischen Menschen wird stets sehr hoch angegeben, wie aus dem Alten Testament bekannt ist.  Noah wurde 950 Jahre bis er starb (Gorion, Sagen der Juden.  "Urzeit", S. 236; "Erzväter", S. 146).
Ohne auf die Frage einzugehen, was man in jenen Überlieferungen unter "Jahren" zu verstehen hat, wie auch unter den "Tagen" der mosaischen Schöpfungsgeschichte, sei nur darauf hingewiesen, daß eine gesetzmäßige Beziehung zwischen der Körpergröße der Tierformen und dem individuellen Lebensalter ihrer Individuen zu bestehen scheint; es sei an das hohe Individualalter des Elefanten erinnert.  Auch die Riesensaurier des mesozoischen Zeitalters mit ihrer oft unheimlichen Körpergröße konnten individuell sehr alt geworden sein und als Einzeltiere vielleicht Menschengenerationen überdauert haben, woraus sich dann wieder einzelne Sagenzüge erklären ließen.  Auch der Urmensch, wenn er sehr groß war, könnte ein sehr hohes individuelles Alter erreicht haben, und es wäre dann nicht nötig, an dem Wort "Jahr" allzuviel noch herumzudeuteln.

9a) Von fachmännischer Seite wurde gelegentlich eingewendet, ein "Stirnauge" liege auf der Stirne, ein "Scheitelauge" oben auf dem Schädeldach; man dürfe daher beides nicht gleichsetzen. - Bei den ein Parietalorgan tragenden Tieren liegen aber Stirne und Schädeldach in einer Flucht; deshalb bedeutet "Stirnauge" und "Scheitelauge" dem Sinn nach wohl dasselbe.  Ich glaube kaum, daß die Sagenüberlieferer bei der Bezeichnung "Stirnauge" auf anatomisch-nomenklatorische Korrektheit Wert legten oder gar an die Möglichkeit einer Unterscheidung von Parietalknochen und Frontalknochen dachten; sonst hätten sie sich gewiß zunftgemäß ausgedrückt!  Ich lasse also für die Gestalt des Urmenschen das Wort "Stirnauge" wechselweise mit "Scheitelauge" stehen und verzichte auf eine so unfruchtbare, den Sinn der Sage verfehlende Haarspalterei, zumal älteste Wirbeltiere auch im streng anatomischen Sinn ein richtiges Stirnloch, nämlich zwischen den Frontal-, nicht zwischen den Parietal-Knochen hatten.  Über die paläontologische Entstehung vgl. meinen Aufsatz "Die Ursinnessphäre" in "Die Kreatur", Band II, Heft 3.  Berlin 1928.
Von der anderen Seite angesehen, ist es jedoch nicht ausgeschlossen, daß von den ältesten fischartigen Urzuständen aus sich eine Entwicklungsbahn mit richtigem Stirnauge und andererseits die bekannten Saurier mit dem Parietal- oder Scheitelauge sich abzweigten.  Der hypothetische Urmenschenstamm könnte zu dem ersterem Typus gehört haben, so daß man bei ihm von einem richtigen Stirnauge im strengsten Sinn reden müßte.  Es ist in diesem Zusammenhang wichtig, daß die Frösche (Anuren) einen richtigen Stirnfleck haben, der in den Frontal- nicht Parietalknochen sitzt und damit auf jenen vermuteten uralten und richtigen Stirnaugenzustand hinweist.  Dieses periphere Stirnorgan entspricht, wie Goette nachwies, aber auch der Zirbel, und das zeigt, daß ihr Hervortreten nach außen nicht an bestimmte Schädelknochen gebunden ist.  Die Frage ist vorläufig nicht zu entscheiden, und ich gebrauche daher den Ausdruck Stirn- und Scheitelauge wechselweise noch in der unverbindlichen Form.  (Vgl. hierzu: J. B. Rohon, Über Parietalorgane und Paraphysen.  Sitzungsber. k. böhm. Ges. Wiss. [Math. Natw. Kl.].  Prag 1899, S. 1-15).

10) Eine Woche vor der Drucklegung, nachdem über ein halbes Jahr dieser Abschnitt inhaltlich feststand, bekam ich noch die Abhandlung von A. Sichler: "Die Theosophie (Anthroposophie) in psychologischer Beurteilung" (Heft 112 der Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.  München und Wiesbaden 1921) in die Hand und findet dort als Gegenstand der Kritik u. a. eine Inhaltsangabe der Hauptgedanken einer Urgeschichte der Menschheit nach H. P. Blavatsky, die sich in einigen Punkten und z. T. identischen Angaben über den Urmenschen mit meinen Schlußfolgerungen berührt.

11) Die Dresdner Mayahandschrift (Codex Dresdenensis) ist veröffentlicht in: "Antiquities of Mexiko" von Lord Kingsborough.  9. Bd. London 1831-48 (Bd. 3, S. 74ff).  Ferner reproduziert von:
E. Förstemann, die Mayahandschrift usw.  Dresden 1892.  (Neudruck, Erste Ausgabe: Leipzig 1880.  Die Abbildungen in F. Helmolts "Weltgeschichte", I. Aufl. Bd. 1.  Leipzig und Wien 1899, S. 230/31 sind ebenbürtige Reproduktionen.  Die im Text jeweils wiedergegebenen Abbildungen sind der Ausgabe von 1880 entnommen.  Erläuterungen zu den Götter- bzw. Dämonengestalten gibt: P. Schellhas, Die Göttergestalten der Mayahandschrift.  Dresden 1897.

12) F. Bumiller, Die Bibel der Quiche-Indianer.  Beilage zur Augsburger Abendzeitung, Nr. 56, 1912, S. 6.

13) Andree, Flutsagen, a. a. O., S. 59.

14) Andree, ibid., S. 84.

15) Preller-Robert, Griech. Mythologie, S. 85.

16) Gilgameschepos, Neu übersetzt v. A. Ungnad, erklärt v. H. Greßmann.  Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments.  Heft 14. Göttingen 1911,  S. 8/9

17) Andree, Flutsagen  S. 74.
Diese indianische Bildererzählung ist wohl in jedem guten Konversationslexikon zu finden, auch in sonstigen gemeinverständlichen Werken oft abgebildet; ferner in R. Andree, Flutsagen.

18) A. Jeremias, Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients.  Leipzig 1904, S. 5.

19) Dähnhardt, Natursagen, Bd. I, S. 226/27.

20) Dähnhardt, ibid., S. 226.

21) Aber gerade das ist es, von wo aus sich abermals zeigen läßt, daß man sogar in der Zeit der extremsten Deszendenzlehre nichts anderes denken und sich vorstellen konnte als folgende drei Fälle:
1. Der Mensch ist ein eigener persistenter Stamm, wenn auch mit allen möglichen Verwandlungen, bis zur ältesten erdgeschichtlichen Zeit zurück.  Das schließt zwei verschiedene Möglichkeiten der Entwicklung ein: Entweder ist dieser selbständige Stamm im Mesozoikum ein primitives Säugetier und im Anfang des Mesozoikums oder im jüngsten Paläozoikum ein Reptil bzw. Amphibium gewesen und hat sich durch diese Stadien zu einem Menschenaffen und zuletzt zum Menschen hindurchentwickelt; oder er war seit jener ältesten Zeit auch äußerlich schon ein eigener Formtypus, wenn auch in allerlei Formverwandlungen erscheinend, also doch eben entelechisch Mensch.  Im ersteren Fall hätten wir nichts wesentlich anderes als den alten grotesken Stammbaum Haeckels, worin die Haie und Reptilien unsere Ahnen waren; genau das.  Aber eben das glaubt heute doch der das paläontologische Material beherrschende Forscher nicht mehr.  Bleibt also nur das zweite noch: der Spätmensch stammt aus seiner eigenen Stammbahn her, nicht von Haien und Molchen.
2. Der Mensch und viele höhere Tiere gehen stammesgeschichtlich auf eine ihnen gemeinsame, sehr alte Urform zurück; der Mensch ist bloß die am weitesten emporgetriebene Spitze und jene gemeinsame Urform ist eben auch seine Urform.  Die übrigen aus dieser Urform bald früher bald später abgezweigten, weniger hochentwickelten Gattungen sind dann eben einseitig differenzierte oder stehengebliebene Stadien seines ursprünglichen Werdens selbst.
3. Es stammt alles Tierleben, soweit wir es zurückverfolgen können, von ein und derselben Urform her, die mithin auch der Stammvater des späteren Menschentieres ist.  Das wäre das alte Bild des auf das Linnésche System gegründeten Stammbaumes der früheren Deszendenzlehre, das zur Spitze den Menschen hatte.  Somit würde sein Wesen auch dem ganzen Stamm bis in den Anfang zurück angehören - es wäre stets seine Urform gewesen, aus der alles hervorging.  Er würde potentia die ganze Tierwelt in seinem Stamm mitgebracht und mitgeführt haben und stets in eben dem Maß reiner herausgetreten sein, als Tierhaftes sich aus dieser seiner Stammbahn in speziellen Formen abspaltete.
Denn es wird doch nicht mehr gut als letzter Ausweg - um eine Entwicklungslehre ohne Entelechie zu retten - behauptet werden wollen, der Mensch sei aus irgend welchen Tierformen, ohne die innere Potenz zu einem Menschen, rein zufällig geworden?  Wo wäre das, was ihn ausmacht, hergekommen?  Aus sich selbst?  Was wäre dieses Selbst?  Oder aus dem Nichts?  Oder aus einem Schöpfungsakt?  Oder aus dem äußeren Ungefähr?  Man mag die Abstammungslehre wenden wie man will: aus den obigen Alternativen wird man nicht herauskommen und ist selbst im darwinistischsten Zeitalter nicht herausgekommen - wenn man nicht gerade den sinnlosen leeren äußeren Zufall als ein höchst mystisches Geschehen an Stelle einer gerichteten Evolution setzen will.  Wie man es also auch wendet und formuliert: der Mensch bleibt als wahre Urform der Stamm aller höheren Wesen.

22) C. Robert, Die griechische Heldensage.  Bd. I.  Berlin 1920,  S. 30; S. 565, Anm. 1.

23) J. J. Schmidt, Forschungen im Gebiete der Bildungsgeschichte der Völker Mittelasiens.  St. Petersburg  1824,  S. 210/13.